Der Apfelbaum – ein Märchen

Es war einmal ein Junge. Der Junge hatte ein kleines Apfelbäumchen. Er hatte große Freude an seinem Bäumchen und hegte und pflegte es, so gut er nur konnte. Als der Baum seine ersten paar Früchte trug, war der Junge außer sich vor Freude. Sorgfältig, beinahe zärtlich, pflückte er die wenigen, winzigen Äpfel und legte sie in sein Körbchen. Er dankte seinem Baum für die erste Ernte und versprach, sich im nächsten Jahr noch besser um ihn zu kümmern.

Und tatsächlich verbrachte der Junge in der nächsten Saison noch mehr Zeit bei seinem Bäumchen, sprach mit ihm, berührte es und beschützte es nach Kräften vor allem Ungemach. Des Jungen Bemühungen wurden belohnt, denn bei der nächsten Ernte waren die Äpfel ein ganzes Stück größer und schöner, und es waren beinahe doppelt soviele. Der Junge bedankte sich abermals bei seinem Baum und verkündete, sich im folgenden Jahr nochmals besser um ihn kümmern zu wollen. Dieses Spiel wiederholte sich viele Male und der Junge wuchs zu einem jungen Mann heran. Er verbrachte jede verfügbare Minute bei seinem Apfelbaum, der mittlerweile schon eine stattliche Erscheinung geworden war. Die Früchte waren üppig und süß, schon lange passten sie nicht mehr in einen Korb. Der junge Mann erntete sie auf einer hohen Leiter stehend und warf sie in einen Leiterwagen.

Die Äpfel wurden von Ernte zu Ernte mehr. Längst schon konnte der junge Mann sie nicht mehr alleine aufessen oder für seinen eigenen Bedarf weiterverarbeiten. Stattdessen fuhr er mit dem Leiterwagen zum Markt, wo er für die schönen Früchte gutes Geld bekam. Er mochte dieses Geld, denn es gab ihm das Gefühl, dass die Anstrengungen für seinen geliebten Baum gewürdigt wurden. Und eines Tages, als er genügend Geld zusammengespart hatte, kaufte er das kleine Stück Land neben seinem Apfelbäumchen. Es war nicht viel, aber Platz genug für ein paar weitere Bäume. Er sprach mit seinem treuen Baum und erzählte ihm von seinen Plänen: „Mein lieber Baum, bald schon wirst du nicht mehr alleine stehen. Ich werde deine Kinder in die Erde setzen und sie lieben und behüten, wie ich es einst mit dir getan habe.“ Der Baum erhob keinen Einspruch und der junge Mann setzte acht kleine Apfelbäumchen in die Erde seines neuerworbenen Landes.

Hingebungsvoll kümmerte er sich um jedes einzelne und versuchte ihnen die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, wie dereinst seinem ersten Bäumchen. Was natürlich nicht im gleichen Ausmaß gelang, denn dafür waren es schon zu viele. Dennoch gediehen die Bäume prächtig und einige Jahre später fuhr der Mann die Ernte bereits mit seinem eigenen Traktor ein. Er hatte noch mehr zusätzliches Land erworben, viele Bäume in die Erde gesetzt und war weithin bekannt für seine erstklassigen Äpfel. Er konnte gut wirtschaften und hatte es bereits zu einigem Wohlstand gebracht. Hin und wieder ging er noch zu seinem alten Apfelbaum, hatte aber keine Zeit mehr, um mit ihm zu sprechen. Er musste viele geschäftliche Termine wahrnehmen, denn seine Äpfel waren bis weit über das Dorf hinaus bekanntgeworden und wurden auch in umliegende Städte geliefert. Er verkaufte seine Äpfel nun viel billiger, denn er musste den Preis an viel größere Betriebe anpassen, um konkurrenzfähig zu sein. Das machte aber nichts, denn er produzierte auf seiner Farm so viele Äpfel, dass er vom Profit ein großes Haus bauen hatte können. Die Erntearbeit verrichteten jetzt seine Mitarbeiter, er konnte sich auf die Vermarktung und strategische Aufstellung seines Betriebes konzentrieren. Auf den Wiesen wurde mit schweren Maschinen gearbeitet, große Investitionen, die sich erst nach Jahren amortisierten. Aber der Mann verstand es zu wirschaften und die Farm florierte. Seinen alten Apfelbaum hatte er hingegen schon seit Jahren nicht mehr besucht; er war nicht mehr ertragreich und wurde mehr geduldet als geschätzt.

Der Mann musste die Preise für seine Produkte immer weiter senken, denn das taten seine Mitbewerber auch. Aber die produzierten Mengen und die Effizienz der Produktion wuchsen so schnell an, dass der Profit jedes Jahr größer wurde. Viele Menschen hatten auf der Farm gearbeitet, aber seit der Mann eine halbautomatische Ernteanlage beschafft hatte, wurden nur mehr sehr wenige Mitarbeiter benötigt. Die anderen wurden weggeschickt. Für die Anlage hatte der Mann sich sehr stark verschuldet, doch solange die Umsätze zumindest stabil blieben, konnte er die Kredite leicht bedienen. Doch just im nächsten Jahr war die Natur ungnädig, es gab sehr späten Frost, etliche Hagelschäden und Überschwemmungen machten den Wiesen zu schaffen. Es konnten bei weitem nicht genug gute Äpfel geerntet werden und der Mann musste schnell handeln. Im nächsten Frühling wurden die Bäume mit einem neuartigen Spezialdünger behandelt, der ausschließlich für Obstbäume gedacht war und einen enormen Ertragszuwachs versprach. Die wenigen verbliebenen Mitarbeiter, die den mittlerweile ergrauten Mann und seine Bäume schon viele Jahre begleiteten, waren sehr beunruhigt über die chemische Substanz aus völlig unbekannten, ja sogar geheimen Zutaten und rieten ihm dringend von der Verwendung ab. Doch der Mann hatte sehr, sehr viel Geld für die Düngemittel ausgegeben, sich dafür sogar nochmals verschuldet, und sah darin die einzige Hoffnung für seine Farm. So wurde der neuartige Dünger ausgebracht, gegen alle Einwände der Arbeiter.

Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Die Bäume erblühten in kürzester Zeit zu voller Pracht und trugen die größten und schönsten Früchte, die der Mann je gesehen hatte. Nach einigen Monaten stand die Farm wieder gut da und die akute Krise war überwunden. Durch das neue Düngemittel waren die Produktionsmengen nochmals deutlich gestiegen und der Mann hatte neuerlich in große Maschinen investiert, um dem Rechnung zu tragen. Den Arbeitern war das Düngemittel immer noch unheimlich, doch der Mann bestand darauf, in der kommenden Saison noch mehr davon einzusetzen, wofür er sich abermals in große Schulden stürzte. Doch diesmal schienen die Bäume nicht so recht in Schwung kommen zu wollen, die Triebe waren recht kümmerlich und die Arbeiter gerieten in Sorge.  Der älteste von ihnen, er arbeitete schon seit vielen Jahren für den Mann, nahm diesen eines Tages beiseite und beschwor ihn, die Chemikalie nicht wieder einzusetzen, weil es die Bäume auf lange Sicht zerstören würde. Da geriet der Mann in Wut und warf seinen treuen Helfer hinaus. Daraufhin wagten die verbliebenen Arbeiter nicht mehr, das Thema überhaupt anzusprechen.

Der Wunderdünger wurde von Jahr zu Jahr in immer größerer Menge ausgebracht, doch trotzdem sank der Ertrag. Die Bäume waren müde und ausgelaugt. Die Arbeiter auf den Wiesen konnten es deutlich sehen, doch der Mann hatte nur noch seine erdrückende Schuldenlast im Kopf – und die sinkenden Umsätze, mit denen er seine finanziellen Verpflichtungen einfach nicht mehr erfüllen konnte. Die Apfelbäume begannen zu sterben und die Arbeiter sahen keine Hoffnung mehr für die Farm und die Bäume, denen sie all die Jahre soviel Zuwendung und Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Sie packten ihre Sachen und liefen davon. Der Mann, verzweifelt und zerfressen von Sorgen, verfluchte seine Leute, denn er hielt sie in seinem eigenen Schmerz für treulose Verräter. Er setzte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder selbst in einen Traktor und fuhr ziellos seine weitläufigen Gründe auf und ab. Überall bot sich ihm das gleiche Bild: vertrocknende, sterbende Gewächse, die den nahenden Winter nicht überstehen würden. Er würde seine ausstehenden Zahlungen nicht begleichen können und alles verlieren.

Erst in diesem Augenblick höchster Not besann sich der Mann seiner alten Liebe, des Apfelbäumchens, mit dem sein Weg vor Jahrzehnten begonnen hatte. Er musste eine Weile überlegen, um sich an den Weg zu erinnern. Doch dann fuhr er mit hoffnungsfrohem Herzen los, denn er war sich sicher, bei seinem ersten Baum, der inzwischen ein knorriger Riese sein musste, nochmals Mut und Kraft finden zu können. Als der Mann die richtige Stelle endlich gefunden hatte, stieg er aus seinem Traktor und ging den kurzen Weg zum ältesten und kleinsten seiner Grundstücke. Er sah sich um und fiel nach einem Augenblick ungläubigen Staunens weinend auf die Knie. Er kniete vor einem leblosen Gerippe, mehr einem verwitterten Felsen gleichend, denn einem alten Baum. Sein alter Gefährte war vor langer Zeit gestorben und stand wie ein zorniges Mahnmal inmitten einer öden Karrikatur dessen, was einmal eine saftig grüne Wiese gewesen war. Der alte Mann hatte in blindwütiger Gier seine Böden so stark überdüngen lassen, dass auch die ältesten und schon längst nicht mehr wirtschaftlich genutzten Pflanzen eingegangen waren. Das Land war tot.

Der Mann richtete sich auf und ging langsam zu den Überresten seines alten Bäumchens. Er umarmte den vertrockneten Stamm und verweilte regungslos. Bilder aus längst vergangenen Zeiten huschten an ihm vorbei. Unbarmherzig spielte ihm sein Unterbewußtsein vor, wie er dem Baum einst versprochen hatte, dessen Kinder zu behüten und vor Unheil zu bewahren. Der Mann bat den toten Baum wortlos um Vergebung für sein Versagen und seinen Frevel, doch der Baum antwortete nicht. Da lief der Mann so schnell er konnte zurück zu seinem Traktor und kam mit einem geflochtenen Seil zurück. Er schlang das Seil um den dicksten Ast des toten Baumes und erhängte sich daran. Niemand suchte in dem abgelegenen Teil der Farm nach dem Mann und seine Überreste gingen mit der Zeit in die  Erde über. Der tote Mann und der tote Baum waren wieder vereint und blieben es für alle Zeiten.