Archiv der Kategorie: Leben

Ein Weihnachtsspaziergang

Die Weihnachtszeit im allgemeinen, die Woche zwischen Heiligabend und Silvester im speziellen, ist eine Zeit der Zäsur. Ob man Weihnachten nun als tief religiös empfundenes Fest oder als Non-Stop-Party betrachtet, diese Zeit lässt kaum jemanden kalt. Niemand entkommt den Erinnerungen an vergangene Feste und mehr oder weniger glückliche Kindertage und niemand entgeht dem innerlichen Bilanzieren des endenden Jahres – so willkürlich menschlicher Kalenderfirlefanz auch sein mag, wir sind darauf geprägt und ein Jahr ist eines von gar nicht so vielen Kapiteln unseres Lebens.

Früher bin ich oft stundenlang alleine durch Wien spaziert, manchmal quer durch die halbe Stadt, um den Kopf freizubekommen und Gedanken zu sortieren. Inzwischen finde ich selten Gelegenheit dazu, der Bedarf ist aber nicht kleiner geworden. Heute, an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag war es notwendig und ich nahm mir etwas Zeit für ein Solo durch den ersten Bezirk. Spazieren ist vielleicht das falsche Wort, tatsächlich bin ich in diesem Modus eher schnell unterwegs, mein Telefon behauptet ich hätte etwa 9000 Schritte in knapp über einer Stunde zurückgelegt. Absurde Technik, kein Mensch hätte sich früher für soetwas interessiert.

Wie ich so durch die weihnachtlich erleuchtete Innenstadt marschiere, Elgars Anmut in den Ohren, über Alles und Nichts sinnierend, und in die zahllosen Gesichter mit ihren ebensovielen Geschichten sehe, kommt mir ein gleichzeitig beklemmender wie seltsam beruhigender Gedanke:

Wir alle sind lebenslänglich auf der Suche nach Resonanz, nach Menschen mit denen wir klicken, nach Seelen mit denen wir schwingen. Wir alle wollen uns verstanden fühlen und gewissermaßen erkannt, sei es in Freundschaften, Liebesbeziehungen, selbst in Arbeitsgemeinschaften. Für viele Menschen funktioniert das auch weitgehend. Für andere kaum.
Was, wenn es für manche von uns ganz grundsätzlich nicht funktioniert? Ich behaupte nicht dass die äußeren Umstände und sozialen Bedingungen irrelevant wären, das sind sie niemals. Und dennoch: ist es denkbar, dass manche Menschen einsam geboren wurden? Mit einer seltsam ungreifbaren, namenlosen Inkompatibilität zur Mehrheit, einer Art von Gefühlstiefe und meinetwegen Melancholie, die sich letztlich gar nicht in Worte fassen lässt und nur bedingten Anschluß an andere erlaubt; Verwirrung und Irritation erzeugt?

Reden wir uns Nähe, Vertrautheit und Verstandenwerden nur ein, um die Illusion von Seelenfrieden zu erlangen? Tauschen wir unsere Menschen ein Leben lang aus, auf der verzweifelten Suche nach etwas das wir im Innersten gar nicht erlangen können, ganz egal mit wem an unserer Seite, weil es uns selbst nicht gegeben ist? Vielleicht im Gegenzug für bestimmte andere Empfindungen und Erkenntnisse, die viele andere nicht in vergleichbarer Intensität erleben dürfen? Weil das nur in innerer Einsamkeit möglich ist?

Das Gedankenspiel ist vielleicht resignativ, vielleicht auch einfach nur wehleidig. Gleichzeitig empfinde ich es aber auch auf seltsame Weise (die Englische Sprache hält dafür das schöne Wort „eerie“ bereit) als befriedend und befriedigend. Manches Ziel mag tatsächlich nicht erreichbar sein – und diese Erkenntnis kann Raum schaffen für Unge- und Unerhörtes.

Euch allen ein frohes Fest und helle Gedanken,
AY

Ganztagsschule: die Verschränkung der Freiheit

Ein paar äußerst dringliche Worte zum Thema Ganztagsschule: Was in den Medien überhaupt nicht rüberkommt (sicher nur Zufall) ist der entscheidende Faktor an der ganzen Thematik. Die Verpflichtung. Was die rotgrünen Ritter und ihre Einsager aus der Wirtschaft da gerade mit fanatischem Eifer auf Schiene bringen, ist die VERSCHRÄNKTE Ganztagsschule. Das bedeutet, eure/unsere Kinder MÜSSEN den ganzen Tag in der Schule verbringen, EGAL OB IHR DAS WOLLT ODER BRAUCHT. Faktisch wird die Schulpflicht mal eben schnell auf den ganzen Tag ausgedehnt, sämtliche öffentlichen Volksschulen werden zu Kindertageskasernen gemacht. Um individuelle Freizeitaktivitäten am Nachmittag brauchen wir uns keinerlei Sorgen mehr zu machen – es gibt keine mehr. Sportverein? Musikschule? Mit Freunden SPIELEN UND KIND SEIN??? Vergesst es!
(Wird stattdessen natürlich alles schulintern angeboten werden, in der immensen Fülle und Qualität, die wir von unserem Schulsystem und seinen Vertretern gewohnt sind.)

Ganztagsschule mag unter bestimmten Voraussetzungen und in einem durch und durch erlesenen Rahmen Sinn machen, für einige wenige Kinder wäre sie vermutlich eine Verbesserung. Es MUSS aber Wahlfreiheit geben. Was aktuell passiert ist Totalitarismus und eine Vergewaltigung der Kinderrechte. Zum Glück ist meine Tochter der Volksschule bereits entwachsen – in Zukunft würde eine Kinderparty am Donnerstag Nachmittag bereits die Grenzen des Systems sprengen. Ein freies und demokratisches Land zwingt seine Kinder aber nicht den ganzen Tag in staatliche, schwerst politisch infiltrierte/indoktrinierte Aufbewahrungsanstalten mit grotesker Nivellierung nach unten, unten, unten. Das ist mit Freiheit nämlich nicht vereinbar.

Das Bildungsministerin Hammerschmid brachte es, konfrontiert mit der Kritik eines Bildungsexperten (fast schon ein Schimpfwort, aber einige wenige haben ihr Hirn noch nicht verkauft) wegen fehlender Belege für den Nutzen der Ganztagsschule auf den Punkt: „Das sei ihr völlig egal, sie glaube trotzdem daran.“ (Quelle: Die Presse, 24.11.2016)

Kapitalismusfaschisten vom linken UND rechten Rand in seltener Eintracht nehmen unseren Kindern den letzten Rest Kindheit – und wir sehen tatenlos zu, damit wir eine halbe Stunde länger vor einem Computer sitzend irgendjemandes Konto auf den Cayman Islands verschönern können? Dafür verscherbeln wir unsere Kinder an einen Staat? Was sind wir für Eltern? Was sind wir für Menschen?

wütend,
AY

One nation under what?

Lange hat dieser Blog geschlafen; mehrmals wollte ich ihn schon offline stellen, doch heute habe ich das Bedürfnis, zu schreiben. Ich reihe mich also ein in die endlose Liste von mehr oder weniger persönlichen Kommentaren zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA. So sinnlos es auch erscheinen mag, schreiben kann ja auch therapeutischer Selbstzweck sein.

Viele wissen, dass ich in jüngeren Jahren gerne in den USA studiert und idealerweise eine Musikkarriere aufgebaut hätte. Nur wenige wissen, dass ich in ganz jungen Jahren ein glühender Fan jenes Landes war und sogar dorthin auswandern wollte. Tatsächlich beteiligte ich mich an dämlichen greencard-lotteries und hatte ernsthaft Unterlagen und Lehrbücher zum US-citizenship-test zuhause. Es war eine Zeit, in der die wohl letzten Ausläufer des „Alles ist möglich“ und der angeblich so unbegrenzten Freiheit hier in Europa noch medial spürbar war. Ich las hauptsächlich amerikanische Bücher und andere Medien, sah amerikanische Filme; meine musikalische Ausbildung fand (weitaus prägender als die späteren Musikstudien) via VHS und DVD, etwas später übers Internet statt – alles aus Amerika. Meine musikalischen Vorbilder lebten und agierten dort; die Bühnen, die ich zu erobern gedachte; die Städte und die Landschaften nach denen ich mich sehnte (dieser letzte Punkt hat sich seither am wenigsten geändert), das war alles „drüben“. Auf meinen wenigen Reisen hatte ich mich in den USA wohl- und „richtig“ gefühlt. Ich wollte dorthin.

Es mangelte an Geld, letztlich auch an Mut, das Leben hatte anderes für mich geplant – es sollte nicht sein. Seither ist die Begeisterung weitgehend verflogen. Das Gras ist jenseits des Atlantik natürlich um keinen Deut grüner ist (es sei denn es wird mit grüner Farbe nachgeholfen). Auch die dortige Musikszene lockt mich nicht mehr; sie ist sehr viel größer, aber siecht genauso dahin wie überall anders. Jugendliche Rock and Roll-Träume von endlosen Weiten und offenen Highways, wo hinter jeder Kurve der potentielle major-deal plus Welttournee, zumindest aber eine umwerfend offen-/herzige Annie, Grace, Samantha auf ein Abenteuer mit dem guitar slinging stranger from abroad wartet, sind längst ausgeträumt. Die Amerikaner sind ein komplexes Volk mit einem großen Rassismusthema und einem Schusswaffenfetisch.

Dennoch: ein gewisses Verbundenheitsgefühl war da. Da drüben leben, flankiert von einem Haufen schwerbewaffneter Verrückter, ein paar hundert Millionen Menschen mit einer zur unseren halbwegs kompatiblen Kultur. Ich kenne nicht sehr viele Amerikaner, aber diejenigen die ich näher kennenlernen durfte, waren vernünftige Leute mit Herz und Hausverstand.

Heute aber fühle ich mich den USA so nahe wie dem Iran oder dem Sultanat Erdoganistan. Wir werden in den kommenden Tagen auf tausenden Seiten von Protestwählern lesen, von Verzweifelten, von Alleingelassenen, von der bedrückenden Allmacht der Konzerne, von einer Wahl zwischen Pest und Cholera, von den Verstrickungen der Clintons, etc. Vieles richtig, alles relevant und wer mich kennt weiß, wie meine Meinung zur Herrschaft der Großunternehmen aussieht. Wen haben Herr und Frau Amerika aber nun statt der favorisierten Kandidatin gewählt, wem ihre Rettung aus offenbar großer Not anvertraut?

Der nächste Präsident der vereinigten Staaten von Amerika steht für all das, wogegen seine Wähler angeblich protestiert haben sollen. Er ist Corporate America in Reinkultur, steht für kurzfristiges Wachstum um jeden Preis und ohne jede längerfristige Perspektive, für das Ausbeuten und Entsorgen von Mensch und Umwelt in jeder nur erdenklichen Weise, für das Hintreten auf Arme, Schwache und Kranke, für Korruption, Schamlosigkeit und Niederträchtigkeit in einer gänzlich neuen Qualität.

Die USA sind ein bevölkerungsreiches Land mit einem durchwachsenen Bildungssystem. Unterschiedliche Bildungsniveaus spiegeln sich überall auf der Welt im Wahlverhalten der Menschen wieder. Das ist bis zu einem gewissen Grad normal und muss wohl akzeptiert werden. Wir sehen zur Zeit in Europa ein alarmierend schnelles Wachstum dieses Effekts. Worin liegt also das Besondere, worüber empöre ich mich wie so viele andere Menschen nach dieser Wahl in einem fremden Land auf einem anderen Kontinent?

Die Amerikaner haben ihren Hausverstand zum Teufel gejagt.

Hausverstand, auch gesunder Menschenverstand genannt, hat nichts mit schulischer Ausbildung oder sozialem Status zu tun. Er ist eine grundlegende Fertigkeit, die von Kindern in ihren ersten paar Lebensjahren teils durch Instinkt, teils durch eigene Erfahrung, teils durch elterliche Anleitung verinnerlicht wird. Ohne Hausverstand kommen wir Menschen nicht durchs Leben. Wir würden kaum unbeschadet das Erwachsenenalter erreichen, sondern verletzt, verstümmelt, eventuell getötet werden. Zumindest aber permanent belogen, betrogen, hintergangen und ausgenutzt. Schon kleine Kinder lernen, dass es ehrliche und unehrliche Leute gibt, dass manche Menschen mit Vorsicht zu genießen, und einige Zeitgenossen richtig gefährlich sind.

In Wahlkampfzeiten ist Hausverstand ganz besonders gefragt, denn Politiker lügen. Oft. Überall auf der Welt. Es ist ein fixer Bestandteil ihres Tuns. Sie versuchen es hinter einer seriösen Fassade zu verbergen und durch gekonnte Rhetorik zu entschärfen, weil sie sich der Un- und Halbwahrheiten durchaus bewusst sind. Donald Trump lügt auch, und zwar ohne Unterlass, ohne jedes Augenmaß und vor allem eines: ohne es überhaupt mitzubekommen. Er schwadroniert vor sich hin wie am Stammtisch nach acht Bier, schimpft, plaudert oder poltert wie und was ihm gerade in den Sinn kommt. Seine Tiraden müssen dabei nichteinmal das berühmte Quentchen Wahrheit enthalten – es ist vollkommen egal. Der Mann schleudert seinem Publikum die absurdesten Lügengeschichten und Hirngespinste entgegen und sie lieben ihn dafür. Sie wissen dass er ein Hochstapler ist, doch das hat keine Relevanz für sie.

Populismus ist eine Sache. Donald Trump eine andere. Er redet dem Volk nicht nach dem sprichwörtlichen Maul, er haut ihm auf selbiges. Und sie finden es ganz toll. Trump trägt seine Widerwärtigkeit und allgemeine Verhaltensoriginalität auf einem Silbertablett vor sich her. Amerika hat beschlossen, beides gut zu finden. Der archetypische Schulhofschläger wurde zum role model ernannt. Böse ist gut, gut ist schwach, schwach ist unpatriotisch.

Man kann Hillary Clinton mögen oder auch nicht. Ich tue es nicht. Doch im Angesicht dieses Irrsinns, dieser offenen Verhöhnung der Demokratie, waren die Optionen eben nicht Pest & Cholera, sondern Pest und ein blauer Fleck. Die USA haben sich voller Begeisterung für die Pest enschieden. Haben sie den Verstand verloren? Nein, sie haben sich bewusst enschlossen ihn zu ignorieren. Mit wehenden Fahnen und patriotischen Grüßen aus Schilda. Ein Hauch von Endzeit weht über den Atlantik.

erschüttert,
AY

Der Apfelbaum – ein Märchen

Es war einmal ein Junge. Der Junge hatte ein kleines Apfelbäumchen. Er hatte große Freude an seinem Bäumchen und hegte und pflegte es, so gut er nur konnte. Als der Baum seine ersten paar Früchte trug, war der Junge außer sich vor Freude. Sorgfältig, beinahe zärtlich, pflückte er die wenigen, winzigen Äpfel und legte sie in sein Körbchen. Er dankte seinem Baum für die erste Ernte und versprach, sich im nächsten Jahr noch besser um ihn zu kümmern.

Und tatsächlich verbrachte der Junge in der nächsten Saison noch mehr Zeit bei seinem Bäumchen, sprach mit ihm, berührte es und beschützte es nach Kräften vor allem Ungemach. Des Jungen Bemühungen wurden belohnt, denn bei der nächsten Ernte waren die Äpfel ein ganzes Stück größer und schöner, und es waren beinahe doppelt soviele. Der Junge bedankte sich abermals bei seinem Baum und verkündete, sich im folgenden Jahr nochmals besser um ihn kümmern zu wollen. Dieses Spiel wiederholte sich viele Male und der Junge wuchs zu einem jungen Mann heran. Er verbrachte jede verfügbare Minute bei seinem Apfelbaum, der mittlerweile schon eine stattliche Erscheinung geworden war. Die Früchte waren üppig und süß, schon lange passten sie nicht mehr in einen Korb. Der junge Mann erntete sie auf einer hohen Leiter stehend und warf sie in einen Leiterwagen.

Die Äpfel wurden von Ernte zu Ernte mehr. Längst schon konnte der junge Mann sie nicht mehr alleine aufessen oder für seinen eigenen Bedarf weiterverarbeiten. Stattdessen fuhr er mit dem Leiterwagen zum Markt, wo er für die schönen Früchte gutes Geld bekam. Er mochte dieses Geld, denn es gab ihm das Gefühl, dass die Anstrengungen für seinen geliebten Baum gewürdigt wurden. Und eines Tages, als er genügend Geld zusammengespart hatte, kaufte er das kleine Stück Land neben seinem Apfelbäumchen. Es war nicht viel, aber Platz genug für ein paar weitere Bäume. Er sprach mit seinem treuen Baum und erzählte ihm von seinen Plänen: „Mein lieber Baum, bald schon wirst du nicht mehr alleine stehen. Ich werde deine Kinder in die Erde setzen und sie lieben und behüten, wie ich es einst mit dir getan habe.“ Der Baum erhob keinen Einspruch und der junge Mann setzte acht kleine Apfelbäumchen in die Erde seines neuerworbenen Landes.

Hingebungsvoll kümmerte er sich um jedes einzelne und versuchte ihnen die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, wie dereinst seinem ersten Bäumchen. Was natürlich nicht im gleichen Ausmaß gelang, denn dafür waren es schon zu viele. Dennoch gediehen die Bäume prächtig und einige Jahre später fuhr der Mann die Ernte bereits mit seinem eigenen Traktor ein. Er hatte noch mehr zusätzliches Land erworben, viele Bäume in die Erde gesetzt und war weithin bekannt für seine erstklassigen Äpfel. Er konnte gut wirtschaften und hatte es bereits zu einigem Wohlstand gebracht. Hin und wieder ging er noch zu seinem alten Apfelbaum, hatte aber keine Zeit mehr, um mit ihm zu sprechen. Er musste viele geschäftliche Termine wahrnehmen, denn seine Äpfel waren bis weit über das Dorf hinaus bekanntgeworden und wurden auch in umliegende Städte geliefert. Er verkaufte seine Äpfel nun viel billiger, denn er musste den Preis an viel größere Betriebe anpassen, um konkurrenzfähig zu sein. Das machte aber nichts, denn er produzierte auf seiner Farm so viele Äpfel, dass er vom Profit ein großes Haus bauen hatte können. Die Erntearbeit verrichteten jetzt seine Mitarbeiter, er konnte sich auf die Vermarktung und strategische Aufstellung seines Betriebes konzentrieren. Auf den Wiesen wurde mit schweren Maschinen gearbeitet, große Investitionen, die sich erst nach Jahren amortisierten. Aber der Mann verstand es zu wirschaften und die Farm florierte. Seinen alten Apfelbaum hatte er hingegen schon seit Jahren nicht mehr besucht; er war nicht mehr ertragreich und wurde mehr geduldet als geschätzt.

Der Mann musste die Preise für seine Produkte immer weiter senken, denn das taten seine Mitbewerber auch. Aber die produzierten Mengen und die Effizienz der Produktion wuchsen so schnell an, dass der Profit jedes Jahr größer wurde. Viele Menschen hatten auf der Farm gearbeitet, aber seit der Mann eine halbautomatische Ernteanlage beschafft hatte, wurden nur mehr sehr wenige Mitarbeiter benötigt. Die anderen wurden weggeschickt. Für die Anlage hatte der Mann sich sehr stark verschuldet, doch solange die Umsätze zumindest stabil blieben, konnte er die Kredite leicht bedienen. Doch just im nächsten Jahr war die Natur ungnädig, es gab sehr späten Frost, etliche Hagelschäden und Überschwemmungen machten den Wiesen zu schaffen. Es konnten bei weitem nicht genug gute Äpfel geerntet werden und der Mann musste schnell handeln. Im nächsten Frühling wurden die Bäume mit einem neuartigen Spezialdünger behandelt, der ausschließlich für Obstbäume gedacht war und einen enormen Ertragszuwachs versprach. Die wenigen verbliebenen Mitarbeiter, die den mittlerweile ergrauten Mann und seine Bäume schon viele Jahre begleiteten, waren sehr beunruhigt über die chemische Substanz aus völlig unbekannten, ja sogar geheimen Zutaten und rieten ihm dringend von der Verwendung ab. Doch der Mann hatte sehr, sehr viel Geld für die Düngemittel ausgegeben, sich dafür sogar nochmals verschuldet, und sah darin die einzige Hoffnung für seine Farm. So wurde der neuartige Dünger ausgebracht, gegen alle Einwände der Arbeiter.

Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Die Bäume erblühten in kürzester Zeit zu voller Pracht und trugen die größten und schönsten Früchte, die der Mann je gesehen hatte. Nach einigen Monaten stand die Farm wieder gut da und die akute Krise war überwunden. Durch das neue Düngemittel waren die Produktionsmengen nochmals deutlich gestiegen und der Mann hatte neuerlich in große Maschinen investiert, um dem Rechnung zu tragen. Den Arbeitern war das Düngemittel immer noch unheimlich, doch der Mann bestand darauf, in der kommenden Saison noch mehr davon einzusetzen, wofür er sich abermals in große Schulden stürzte. Doch diesmal schienen die Bäume nicht so recht in Schwung kommen zu wollen, die Triebe waren recht kümmerlich und die Arbeiter gerieten in Sorge.  Der älteste von ihnen, er arbeitete schon seit vielen Jahren für den Mann, nahm diesen eines Tages beiseite und beschwor ihn, die Chemikalie nicht wieder einzusetzen, weil es die Bäume auf lange Sicht zerstören würde. Da geriet der Mann in Wut und warf seinen treuen Helfer hinaus. Daraufhin wagten die verbliebenen Arbeiter nicht mehr, das Thema überhaupt anzusprechen.

Der Wunderdünger wurde von Jahr zu Jahr in immer größerer Menge ausgebracht, doch trotzdem sank der Ertrag. Die Bäume waren müde und ausgelaugt. Die Arbeiter auf den Wiesen konnten es deutlich sehen, doch der Mann hatte nur noch seine erdrückende Schuldenlast im Kopf – und die sinkenden Umsätze, mit denen er seine finanziellen Verpflichtungen einfach nicht mehr erfüllen konnte. Die Apfelbäume begannen zu sterben und die Arbeiter sahen keine Hoffnung mehr für die Farm und die Bäume, denen sie all die Jahre soviel Zuwendung und Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Sie packten ihre Sachen und liefen davon. Der Mann, verzweifelt und zerfressen von Sorgen, verfluchte seine Leute, denn er hielt sie in seinem eigenen Schmerz für treulose Verräter. Er setzte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder selbst in einen Traktor und fuhr ziellos seine weitläufigen Gründe auf und ab. Überall bot sich ihm das gleiche Bild: vertrocknende, sterbende Gewächse, die den nahenden Winter nicht überstehen würden. Er würde seine ausstehenden Zahlungen nicht begleichen können und alles verlieren.

Erst in diesem Augenblick höchster Not besann sich der Mann seiner alten Liebe, des Apfelbäumchens, mit dem sein Weg vor Jahrzehnten begonnen hatte. Er musste eine Weile überlegen, um sich an den Weg zu erinnern. Doch dann fuhr er mit hoffnungsfrohem Herzen los, denn er war sich sicher, bei seinem ersten Baum, der inzwischen ein knorriger Riese sein musste, nochmals Mut und Kraft finden zu können. Als der Mann die richtige Stelle endlich gefunden hatte, stieg er aus seinem Traktor und ging den kurzen Weg zum ältesten und kleinsten seiner Grundstücke. Er sah sich um und fiel nach einem Augenblick ungläubigen Staunens weinend auf die Knie. Er kniete vor einem leblosen Gerippe, mehr einem verwitterten Felsen gleichend, denn einem alten Baum. Sein alter Gefährte war vor langer Zeit gestorben und stand wie ein zorniges Mahnmal inmitten einer öden Karrikatur dessen, was einmal eine saftig grüne Wiese gewesen war. Der alte Mann hatte in blindwütiger Gier seine Böden so stark überdüngen lassen, dass auch die ältesten und schon längst nicht mehr wirtschaftlich genutzten Pflanzen eingegangen waren. Das Land war tot.

Der Mann richtete sich auf und ging langsam zu den Überresten seines alten Bäumchens. Er umarmte den vertrockneten Stamm und verweilte regungslos. Bilder aus längst vergangenen Zeiten huschten an ihm vorbei. Unbarmherzig spielte ihm sein Unterbewußtsein vor, wie er dem Baum einst versprochen hatte, dessen Kinder zu behüten und vor Unheil zu bewahren. Der Mann bat den toten Baum wortlos um Vergebung für sein Versagen und seinen Frevel, doch der Baum antwortete nicht. Da lief der Mann so schnell er konnte zurück zu seinem Traktor und kam mit einem geflochtenen Seil zurück. Er schlang das Seil um den dicksten Ast des toten Baumes und erhängte sich daran. Niemand suchte in dem abgelegenen Teil der Farm nach dem Mann und seine Überreste gingen mit der Zeit in die  Erde über. Der tote Mann und der tote Baum waren wieder vereint und blieben es für alle Zeiten.