Das universelle Recht auf Unrecht

Vor einigen Tagen hörte ich eine Radiosendung über die unsäglichen Vorgänge in österreichischen Kinderheimen (siehe z.B. die Presse). Über dieses erschütternde Thema geriet ich derartig in Rage, dass ich in aller Social Media-Öffentlichkeit gegen eine eherne Regel des Österreichertums verstieß: Ziehe niemals einen Vergleich zwischen den grauenhaften Verbrechen der Menschheit während der NS-Zeit und den grauenhaften Verbrechen der Menschheit davor und danach. Ich verstehe zwar nicht wieso, aber man darf das auf keinen Fall tun.

Ich tat es dennoch und bezeichnete die Lager, in denen Kinder von einem staatlich/kirchlichen, äußerst diskreten Unrechtsapparat wie Sklaven gehalten, physisch und psychisch gefoltert und ganz nach Belieben ausgebeutet wurden, in einem facebook-posting als Kinder-KZ. Der erwartet empörte Aufschrei folgte auf dem Fuße. Was genau soll nun aber an diesem Vergleich so so inakzeptabel sein?

Ein unbestrittener Unterschied besteht darin, dass die Vernichtungslager der Nazis im Endeffekt der Ermordung ihrer Insassen dienten, was bei Kinderheimen natürlich nicht der Fall ist. Zehntausende Kinder kamen zwar völlig zerstört, aber medizinisch betrachtet lebendig aus den Heimen der aktuell medienpräsenten Zeit heraus. Doch beides steht für institutionalisierte Grausamkeit und systemimmanentes Unrecht – die Grenzen sind fließend. So fließend, dass ich sie nicht als Grenzen anerkenne. Wo immer ein Machtgefälle auf derart absurde Weise überhöht und zum Mittelpunkt eines geschlossenen Systems gemacht wird, wo totale Rechtlosigkeit auf der einen und faktische Allmacht auf der anderen Seite herrschen, tritt die wahre Natur des Menschen ans Tageslicht: grausam, heimtückisch, feige.

Ob das nun aus rassistischen, politischen, religiösen oder sonstigen Motiven passiert ist schlicht irrelevant. Menschen werden unterdrückt, gequält, ausgebeutet, körperlich und seelisch zerstört. Ob Nazi-Vernichtungslager, US-Foltercamp, chinesisches Arbeitslager, Gaza, Nordkorea, Somalia, katholisches Kloster oder österreichisches Kinderheim. All die Untaten wurden und werden letztlich nicht vom „System“ begangen, sondern von einzelnen Menschen. Und diese Menschen handelten und handeln im entscheidenden Moment nicht aus politischen Gründen. Sondern aus persönlicher Grausamkeit. Stets wohlbehütet von einer Mauer des Schweigens, erbaut aus Obrigkeitshörigkeit und pervertiertem Pflichtbewusstsein. Weil zwischen dem Menschen und seiner monströsen Natur ganz offensichtlich nichts weiter steht als Mangel an Gelegenheit.

Aber solange die Menschheit sich weigert, die auffälligen Gemeinsamkeiten quer durch alle Zeitalter, Kontinente und Regime zu erkennen und es stattdessen primär darauf ankommt, ob eine Opfergruppe eine starke Lobby hinter sich hat oder eben nicht, kann sich daran auch nichts ändern.

Meine Haltung dazu wird höchstwahrscheinlich als schwere Verletzung der political correctness betrachtet. Und wenn ich auf diesen erbärmlichen Verwandten der Diplomatie jemals Wert gelegt hätte, wäre ich mit großer Sicherheit ein erfolgreicherer Netzwerker und mit noch größerer Sicherheit wirtschaftlich wesentlich besser aufgestellt, als ich es bin. Aber mit größter Sicherheit könnte ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen.

Eines noch zum Thema Nationalsozialismus: schon unsere Großelterngeneration wurde für ihre Argumentation „Wir hatten ja keine Ahnung!“ mehr als schief angeschaut. Wie werden wir eigentlich unseren Enkelkindern in 50 Jahren erklären, dass wir von den unaussprechlichen Vorgängen auf unserem Planeten, die wir diesmal 24/7 per HD-Livestream inklusive Nachtsichtmodus auf unsere Kommunikationsspielzeuge geliefert bekamen, doch wirklich nicht die geringste Ahnung hatten? Es wäre natürlich viel bequemer, die Schweinereien eines halben Jahrhunderts ein weiteres Mal der übernächsten Generation zur „Aufarbeitung“ umzuhängen, aber soll es ewig so weitergehen? Menschen leiden und sterben JETZT. Gegenwarts- statt Vergangenheitsbewältigung – unserer Rasse einzige Hoffnung.

unoptimistisch,
AY